Praxis für Psychotherapie - Biberach
Ute Brintzinger

5. Die Rolle des Psychotherapeuten

Drei Kernpunkte habe ich beschrieben, die das Menschenbild der Gestalttherapie ausmachen: das ganzheitliche Denken, der Prozeßcharakter allen Lebens und die Beziehung zur Umwelt als unabdingbarer Notwendigkeit. Diese Annahmen impli­zieren eine bestimmte Haltung des Therapeuten.

Wenn ich als Therapeutin ganzheitlich denke, bin ich mir bewußt, daß das, was ich im Moment sehe, erlebe und spüre, nur die Figur ist. Ich muß mir immer wieder den Hintergrund vergegenwärtigen und ihn mit einbeziehen. Das kann auch heißen, daß ich nicht nur das sehe, was mein Gegenüber im Moment tatsächlich ist, son­dern auch schon das sehe, was ich nur erahnen kann, daß er es sein wird. Ich könnte es auch ausdrücken als der Glaube an das Potential.

Die Tendenz zur guten Gestalt, mit der Implikation der Selbstregulation des gesun­den Organismus, heißt für mich als Therapeutin, daß ich gar nicht viel machen muß. Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß ein fruchtbarer Boden entsteht, auf dem etwas wachsen kann. Dann brauche ich noch ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Es macht keinen Sinn, mitten im Winter kälteanfällige Pflänzchen zu setzen.

Wenn man die Ausführungen zum Kontakt und zu Begegnung, ganz gleich ob nach Perls oder nach Buber, zuende denkt, so muß man sich als Therapeut von der Haltung verabschieden, dem anderen „helfen“ zu wollen. Es scheint vielmehr darum zu gehen, selbst mit der ganzen Person da zu sein, nicht als Helfer, als einer, der hilft, indem er etwas macht, sondern als menschliches Gegenüber, das gerade dadurch hilfreich ist, daß es sein Mensch-Sein zuläßt. Lynne Jacobs (1990) schreibt: „Wenn ein Therapeut dem Klienten aus einer Ich-Du-Haltung heraus gegenübertritt, hat er keinen Wunsch, den Klienten zu verändern, sondern nur den, seine Existenz zu verstehen und ihm zu begegnen.“ Und an anderer Stelle: „Der Therapeut muß bereit sein, durch den Klienten berührt und bewegt zu werden.“

Besonders erwähnenswert finde ich die Ausführungen von Jacobs, mit denen sie Ich-Du, Bewußtheit und das Paradox der Veränderung unter einen Hut bringt. Das Ziel der Gestalttherapie ist Bewußtheit zu erlangen. Die Bewußtheit geschieht im Kontakt, indem der Therapeut seinen Klienten an seinem Erleben teilhaben läßt und ihn zu gleichem ermutigt. Durch eine Haltung des Akzeptierens dessen was ist, und noch weiter, durch die Bestätigung der Existenz des Klienten durch den Therapeuten, entfaltet sich ein heilendes Potential in der Beziehung.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Erleben des Therapeuten, das er verba­lisiert, umfaßt nicht alles, was ihm in dem Moment durch den Kopf geht. Vielmehr geht es um eine selektive Mitteilsamkeit, wie auch um eine selektive Authentizität. Das was der Therapeut über sich sagt, muß in einer Beziehung zum Therapie­prozeß stehen. Jacobs: „Therapeutisch sinnvoller Selbstausdruck dient entweder der Förderung des Dialogs (wie Buber sagen würde) oder dem nächsten Schritt in der Bewußtheit des Klienten (wie Lore Perls sagen würde) und öffnet so den Weg zu einer vertieften Erfahrung der Beteiligen.“

Nun ist die Frage: Wenn der Therapeut ein menschliches Gegenüber darstellt, inwiefern ist eine Gegenseitigkeit der Beziehung sinnvoll oder wünschenswert? Diese Frage habe ich kürzlich mit meinen Schülern in der Heilpraktikerschule diskutiert, als wir uns mit Watzlawicks (Watzlawick et al. 1990) fünf Axiomen der Kommunikation beschäftigt haben. Da stellte sich die Frage: Ist die therapeutische Beziehung eine komplementäre oder eine symmetrische? In der komplementären Beziehung gibt es verschiedene Rollenaufteilungen: der eine stellt Fragen, der andere antwortet; der eine hilft, der andere empfängt Hilfe. In einer symmetrischen Beziehung hingegen sind beide Interaktionspartner gleichberechtigt. Beide haben das Recht, Fragen zu stellen, zu erzählen, Anweisungen zu geben.

In der Psychotherapie müssen zwangsläufig verschiedene Rollen aufgeteilt werden. Meine Klienten sollen einen Raum einnehmen dürfen, den ich ihnen nicht streitig mache, indem ich mich breit mache und ihnen von meinen Problemen erzähle. Gleichzeitig, wenn ich mich selbst als Mensch auf das Gegenüber einlasse und bereit bin für eine Ich-Du-Haltung, dann ist die Subjekt-Objekt-Relation aufge­hoben, dann sind wir symmetrisch.

Eine Schülerin hob den Widerspruch folgendermaßen auf: Auf der Inhaltsebene ist die Beziehung überwiegend komplementär. Auf der Beziehungsebene dagegen darf die Beziehung auch symmetrisch werden. Es ist kein Privileg von mir als The­rapeutin, daß ich über meine Gefühle und Wahrnehmungen im Prozeß spreche, noch ist es etwas, was ich einseitig von meinem Gegenüber einfordere. Es ist etwas, was uns beiden zusteht. Ich werde es am Anfang der Therapie häufiger tun, mein Gegenüber vielleicht nur nach Aufforderung. Am Ende der Therapie, mögli­cherweise, werden wir beide im gleichen Maß uns unsere Wahrnehmungen und Empfindungen mitteilen.

Zwei Gedankengänge von Jacobs möchte ich hier noch ergänzen. Sie geht der Frage nach einseitiger und gegenseitiger Umfassung nach. „Der wesentliche Unterschied zwischen gegenseitiger und einseitiger Umfassung beruht nicht auf der Annahme, die Person des Therapeuten sei von der des Klienten grundsätzlich verschieden. Der Unterschied ergibt sich aus der Tatsache, daß die Aufgabe die zwei Beteiligten in ein unterschiedliches Verhältnis zueinander setzt.“ Für die Bestätigung, die ebenfalls weitgehend einseitig erfolgt, gilt: „Die Bestätigung des Therapeuten erwächst für ihn daraus, wie er sich selbst in der Erfüllung seiner Aufgabe ausdrückt...Letztlich sind es die Selbstakzeptanz des Therapeuten, sein Selbstwertgefühl und sein Vertrauen in den Sinn seiner für beide Beteiligte befrei­enden Aufgabe, die ihn befähigen, seinen Wunsch nach Bestätigung durch den Klienten zurückzustellen und statt dessen durch das Bewußtsein Bestätigung zu erfahren, daß er seiner Aufgabe auf diese Weise am besten dient.“

Wie könnte man nun die Rolle eines Gestalttherapeuten beschreiben? Perls et al. (1992) bezeichnen den Therapeuten als Katalysator. „In unseren Augen ähnelt der Therapeut dem, was der Chemiker einen Katalysator nennt, einem Ingrediens, das eine Reaktion beschleunigt, die anders möglicherweise nicht eintritt...Seine Funk­tion ist es, einen Prozeß in Gang zu setzen. Es gibt nun einige Prozesse, die, einmal in Gang gesetzt, sich selbst erhalten oder autokatalytisch sind.“ Mir persön­lich fehlt beim Bild des Katalysators etwas. Ich spürte das deutlich, als meine Klientin Mechthild, um die es später geht, mich als Katalysator bezeichnete. Es ist der dialogische Aspekt, der mir fehlt.

Ein anderes Bild benützt Hycner (1990). Er spricht vom „Hüter des Dialogs“. „Aus dem Blickwinkel eines dialogischen Ansatzes erscheint mir der Therapeut als ‚Hüter des Dialogs’. Damit meine ich in sehr grundlegendem Sinne, daß die Indivi­dualität des Therapeuten – zumindest zeitweilig – im Dienste des Dialogs steht, der die vollständige therapeutische Gestalt ausmacht und die an ihm beteiligten Indivi­duen einschließt...Ein wichtiger Grund dafür, daß Menschen sich in Psychotherapie begeben, liegt in ihrem ‚gestörten’ Dialog mit anderen. Wenn der Therapeut diesen ‚Riß’ im zwischenmenschlichen Gewebe heilen will, ist es von wesentlicher Bedeutung, daß er sich selbst in den Dienst des Dialogs stellt und sich fragt: ‚Wie muß ich sein und was muß ich tun, um diesem Menschen dabei zu helfen, daß er eine wirklich dialogische Beziehung zur Welt aufnehmen bzw. wiederherstellen kann?’“

Hier frage ich mich, ob die Frage „wie muß ich sein?“ und das entsprechende Handeln nicht zu absichtsvoll sind und es nicht vielmehr das ausgewählte Zulassen des So-Seins ist, das heilend wirkt? Vielleicht meint Hycner aber auch mit der Frage „wie muß ich sein?“ das Auswählen der eigenen Empfindungen, die dem Klienten im Prozeß mitgeteilt werden. Mein Verständnis des „Hüters des Dialogs“ ist, immer wieder darauf zu achten, daß wir wirklich in der Begegnung sind und nicht in der Vergegnung, und das Erleben im Sinne einer selektiven Authentizität mit in die Beziehung einzubringen.

Noch ein weiteres Bild, wie die Rolle des Therapeuten beschrieben werden kann, möchte ich anführen. Ein Bild, das gegen den Größenwahn helfen mag, den man in Versuchung ist als Therapeut zu verspüren, wenn man die Fortschritte der The­rapie nur dem eigenen Können zuschreibt. Doubrawa (2000) zitiert einen seiner Supervisanden, der sich als „Steigbügelhalter“ betrachtete. Doubrawa bespricht mit seinen Supervisanden ihre Sitzungen und sagt, „daß der Klient das Recht habe, zu scheitern.“ Weiter: „Darauf erzählte Alex, ein praktischer Arzt, daß er seine Arbeit in ähnlicher Weise nur als ein ‚Steigbügelhalter’ verstehe. Ich bat ihn, in der Gruppe aufzustehen und den ‚Steigbügelhalter’ vorzumachen. Er tat dies bereitwil­lig. Alex steht also mitten in der Gruppe und macht mit den Händen eine Geste, als würde er einen Steigbügel halten, damit der Reiter hineintreten kann. Dabei hält er seinen Kopf leicht gesenkt, blickt auf seine Hände und den imaginären Steigbügel in ihnen. Stille breitet sich in der Gruppe aus. Fast andächtig. ‚So sieht Demut aus,’ sage ich.“

Ehrlich gesagt, es fällt mir nicht immer leicht, Psychotherapeutin – Gestalttherapeutin – zu sein. Früher wünschte ich mir oft, ich wäre Postbotin geworden. Dann wüßte ich jeden Tag genau, welchen Weg ich zu gehen hätte. Manchmal auch, wenn ich in meine Praxis gehe, beneide ich all die Menschen, die mit „toter Materie“ zu tun haben. Dann müßte ich mich nicht mit anderen Menschen und schon gar nicht mit mir auseinandersetzen. Aber dann gibt es auch diese Momente in der Therapie, in denen – oftmals absichtslos und überraschend – plötzlich etwas „passiert“, mit dem anderen und mit mir, und ich eine große Übereinstimmung und Zustimmung spüre, zu dem anderen, zu mir, zum Leben, zu dem was ist. Das sind Momente voller Einfachheit und Schönheit, die eine tiefe Spur hinterlassen. In diesen Momenten will ich nirgends anderes sein, als da wo ich bin, und ich will nichts anderes sein als das, was ich bin. Dann sehe ich die andere Seite von meinem Beruf: wie schön, daß ich als Gestalttherapeutin ganz Mensch sein kann!

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