Praxis für Psychotherapie - Biberach
Ute Brintzinger

Das Menschenbild in der Gestalttherapie

4.2 Die dialogische Kontaktgestaltung

Oben habe ich darüber gesprochen, was Kontakt ist und wie er prozeßhaft verläuft. Jetzt geht es darum, welche Arten es gibt, in Kontakt zu gehen und in der Welt zu sein. Dies ist meines Erachtens das Herzstück oder die Seele der Gestalttherapie. Sie wurde stark von Martin Buber und seinen Ausführungen zum Dialog geprägt.

Martin Buber hatte von 1923 bis 1930 einen Lehrauftrag für Religionswissen­schaften und jüdische Ethik an der Universität Frankfurt. Mit unter seinen Zuhörern waren Fritz und Lore Perls. Zu dieser Zeit erschien auch sein Buch „Ich und Du“, in dem es um die Beziehungsgestaltung geht, und das später das erste Kapitel zu dem Werk „Das dialogische Prinzip“ bildete.

In einem Interview mit Milan Sreckovic sagte Lore Perls (1989) über Buber und Tillich: „Ich habe mehr aus der Begegnung der beiden als aus ihren Schriften gelernt. Ihre Art zu sein, ihre Präsenz und ihr Respekt für die anderen haben mich tief beeindruckt. They influenced me more than any psychologist.“ Und an anderer Stelle: „Ein Gestalttherapeut verwendet keine Techniken; er verwendet sich selbst in einer und für eine Situation mit den professionellen Fähigkeiten und mit seiner Lebenserfahrung, die er angesammelt und integriert hat“.

Nach Buber (1973) gibt es zwei Grundworte: Ich-Du und Ich-Es. Diese Grundworte sind unterschiedliche Art und Weisen, wie Beziehungen eingegangen werden können. „Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.“

Das Ich-Es ist das, was wir die meiste Zeit tun. Wir haben eine Subjekt-Objekt-Beziehung zur Welt. Alle Zeitwörter, die auf etwas abzielen, die ein „Etwas“ zum Objekt haben, gehören der Ich-Es-Welt an. Ich nehme etwas wahr. Ich empfinde etwas. Ich will etwas. Und auch alles, was ich mit anderen mache, indem es eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt gibt, gehört zum Ich-Es. Genauso alle Erfahrungen, die ich mache, ob es „innere“ oder „äußere“ Erfahrungen sind. „Die Welt der Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet Beziehung.“

Das Ich-Du in Worte zu fassen fällt mir recht schwer. Das gehört vielleicht auch zu seinem Wesen. Ein paar Zitate von Buber mögen erhellen, was mit Ich-Du gemeint ist. „Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“ Am Beispiel eines Baumes erläutert Buber das Ich-Du: „Ich betrachte einen Baum...Ich kann ihn als Bild aufnehmen...Ich kann ihn als Bewegung verspüren...In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand...Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm einge­faßt werde, und nun ist er kein Es mehr. Die Macht der Ausschließlichkeit hat mich ergriffen.“

Das Ich-Du ist folglich auch nichts, was ich machen kann. Ich kann nur bereit sein dafür. An anderer Stelle sagt Buber: „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat.“ Somit müssen wir also zwischen der Ich-Du-Haltung, die ich in gewissem Sinne beeinflussen kann, und der Ich-Du-Begegnung, die von Gnaden kommt, unterscheiden.

Buber verwendet den Begriff der Begegnung im Gegensatz zur „Vergegnung“. Letzteres tritt ein, wenn zwei Menschen die Begegnung mißlingt und sie aneinan­der vorbei leben.

Wirkliche Begegnung ist etwas Wechselseitiges. Jeder hinterläßt beim anderen eine Spur, so daß schließlich zwei veränderte Menschen aus der Begegnung hervorgehen.

Begegnung setzt einen Ich-Du-Moment voraus, Vergegnung geschieht immer im Ich-Es. Man kann Ich-Du- bzw. Ich-Es-Haltung als den Hintergrund betrachten, vor dem sich die Figur, nämlich eine Ich-Du-Begegnung, abheben kann. In diesem Sinne können Ich-Du- und Ich-Es-Haltung als zwei Arten des In-der–Welt-Seins betrachtet werden. Sie werden auch als das dialogische Prinzip bezeichnet. Hycner (1996) formuliert es so: „Das ‚Dialogische’ ist eine Haltung der Offenheit gegenüber der Andersartigkeit der anderen Person, die mit dem Wunsch einhergeht, mich selbst in der ‚Begegnung’ mit dieser anderen Person ganz zu zeigen. Es ist die Bereitschaft, mich nach all meinen individuellen Anstrengungen ‚dem Zwischen’ hinzugeben.“

Das Ich-Du ist ein seltener und kostbarer Moment. Das Ich-Es ist an sich nichts Schlechtes. Lynne Jacobs (1990) stellt heraus, daß das Ich-Es von vitaler Bedeu­tung für die Bewältigung des Lebens, das Ich-Du für die Verwirklichung der Person ist. Nur wenn das Ich-Es das Einzige ist, was gelebt und gekannt wird, fehlt etwas, dem, so glaube ich, eine tiefe menschliche Sehnsucht gilt.

Im Ich-Du-Moment werden alle Konzepte und Programme außer acht gelassen. Zwei Menschen mit ihrem ganzen Wesen stehen sich unmittelbar gegenüber. „Dialogisches Leben ist ständige Bereitschaft zum Wagnis. Wer sich auf diesen Weg begibt, findet nicht die Ruhe und Sicherheit des monologisch lebenden Eigenwesens, das weiß, wie seine Welt eingerichtet ist, und sich vor allem an der Vergangenheit orientiert,“ so Felix Helg (1992) in seinen Ausführungen über den Einfluß Martin Bubers auf die Gestalttherapie. Lynne Jacobs beschreibt die Un­sicherheit dieses Augenblicks noch etwas drastischer: „Der Ich-Du-Moment enthält einige Schrecken des Engpaß. Es entsteht die symbolische Gefahr des Todes. Während des Engpaß tritt diese auf, wenn jemand sein Selbstbild aufgibt, um sich seinem gerade entstehenden Gespür des eigenen Selbst zuzuwenden.“ Mich erinnert dies an meine Versuche, das Skifahren zu erlernen. Ich solle mich in der Kurve in die Fall-Linie begeben, sagte mein Lehrer. Meist tat ich das nicht, denn die Fall-Linie enthielt für mich diesen Schrecken. Da geht es den Abhang hinunter und ich müßte ganz und gar auf die Gesetze der Physik vertrauen, nach denen ich dann nicht kopfüber abstürze in den Abgrund, sondern mich mit Leichtigkeit drehe und so die Richtung wechsle.

Was das Dialogische von Buber betrifft, so sind zwei Besonderheiten noch zu erwähnen. Es geht um die „Umfassung“ und die „Bestätigung“, die beide aus einer Ich-Du-Haltung heraus passieren können.

Umfassung heißt, „sich in den anderen einschwingen“ und seine Seite so zu erfas­sen wie man das Eigene erfaßt. Es geht darum, das Andere so gut wie möglich nachzuvollziehen und gleichzeitig mit sich selbst verbunden, ja, in sich selbst zentriert zu sein.

Bestätigung im Sinne von Buber hat nichts mit dem zu tun, was umgangsprachlich unter Bestätigung verstanden wird: dieses „Ja, das hast du gut gemacht.“ Mit Bestätigung ist hier das Ja zur Existenz des anderen gemeint. Es geht über die bloße Akzeptanz eines Verhaltens hinaus und meint die Bejahung „auf einer existentiellen Ebene, selbst wenn ihr (der Person) gegenwärtiges Verhalten für inakzeptabel gehalten wird“ (Hycner 1990).

Für beides ist Voraussetzung, daß der Mensch seine Verschiedenheit von einem anderen Menschen anerkennt. Dieses Abrücken vom anderen nennt Buber „Distanzierung“.

Ich-Du-Momente, Bestätigung und Umfassung gibt es nicht nur in verbalen Dialo­gen, auch sind sie in nonverbalen Situationen erlebbar. Manchmal – ganz selten – erlebe ich sie beim Tango. Es fühlt sich an wie ein großes „Ja“. Es ist ein unaus­sprechlicher, fast heiliger Moment, in dem mir etwas widerfährt, das mich mich öffnen und ganz und gar ich sein läßt. Dann sind alle Kontroll-, Wertungs- und Zensurinstanzen außer Kraft, einzig zählt das „So-bin-ich“ und „So-bist-du“.

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